BASE-Forschungsprojekt „Bürgerdialog Kernenergie“ und dessen Bedeutung für das heutige Standortauswahlverfahren
Meldung
Stand: 29.04.2024
Erstmals hat sich ein interdisziplinäres wissenschaftliches Forschungsprojekt systematisch mit dem „Bürgerdialog Kernenergie“ (1974-1983) auseinandergesetzt. Dieses Angebot kann als erste staatliche Reaktion auf den wachsenden Widerstand gegen kerntechnische Anlagen in der Bevölkerung gesehen werden. Die Ergebnisse des Projekts liegen nun vor – sie zeigen, dass es viel zu lernen gibt für die heutige Suche nach einem sicheren Endlagerstandort.
In den 1970er Jahren befand sich die Bundesrepublik Deutschland im Umbruch. Viele Sektoren waren betroffen. Beim Thema Energieversorgung stand die Republik vor mehreren Problemen: Die Energiekrise verlangte nach Antworten jenseits von Öl, um Wachstum und Wohlstand zu sichern. Zugleich wurden Forderungen aus der Bevölkerung nach direkter politischer Teilhabe und Mitbestimmung immer lauter. Vor allem das Thema „Kernkraft“ löste deutschlandweit Diskussionen aus. Immer mehr Bürger:innen zeigten sich skeptisch gegenüber der Hochrisikotechnologie; Proteste gegen Kernkraft wurden häufiger. Die administrativ-politischen Entscheidungsträger sahen sich unter Druck gesetzt: Der Bau von Kernkraftwerken wurde von ihnen parteiübergreifend als die richtige Antwort auf Fragen der Energieversorgung betrachtet. Kerntechnische Anlagen zu planen und zu bauen, gestaltete sich jedoch regional und überregional als immer größere Herausforderung. Manches Vorhaben musste aufgrund heftigen und anhaltenden Protests eingestellt werden.
Zielsetzung des „Bürgerdialogs“: Wissensvermittlung und Austausch
Um hier gegenzusteuern, rief die Bundesregierung 1974 den „Bürgerdialog Kernenergie“ ins Leben. Im Rahmen dieses Angebots wurde die Öffentlichkeit über Vor- und Nachteile der Kernenergienutzung sowie den Standpunkt der Bundesregierung informiert. Bei der Erstellung entsprechender Veröffentlichungen und der Umsetzung direkter Diskussionsformate (Seminare, Workshops, Informationsveranstaltungen) ging es auch um den gemeinsamen Austausch. Explizit wurden auch Kritiker:innen der Kernenergie unter dem Leitprinzip „Rede-Gegenrede“ einbezogen. Später wurden auch Alternativen zur Kernenergie zum Gegenstand des Dialogs. Unter anderem wurden Fragen wie „Wie wollen wir in Zukunft leben?“ diskutiert.
Das Forschungsprojekt des BASE untersucht mehrere Fragestellungen: Wie wurde der „Bürgerdialog Kernenergie“ konkret umgesetzt? Welche Erwartungen verbanden die unterschiedlichen Beteiligten und wie wurde er in der Zivilgesellschaft, den Medien und der Wissenschaft wahrgenommen?
Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen begab sich das Projektteam – ein Verbund aus IZT - Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung gemeinnützige GmbH, gemeinnützige DIALOGIK GmbH und Gorleben Archiv e.V. – in staatliche und nicht staatliche Archive. Die Wissenschaftler:innen analysierten die spärlich vorhandene Sekundärliteratur und führten Interviews mit Zeitzeugen. Darunter der ehemalige Bundesforschungsminister Volker Hauff oder Jo Leinen, ehemaliger Vorstandsprecher des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU).
„Bürgerdialog Kernenergie“: Alibikampagne oder innovatives Partizipationsangebot?
Die Ergebnisse der Forschungsarbeit zeigen: Der „Bürgerdialog“ kann durchaus als innovative Form der Partizipation gesehen werden. Alle gewünschten Ziele erreichte das Angebot aber nicht. Entgegen den Erwartungen seiner Initiator:innen führte er zum Beispiel nicht zur Abnahme des Widerstands. Vielmehr betrachteten die Kritiker:innen des Kernenergie-Ausbaus den „Bürgerdialog“ teilweise als „Alibikampagne“ mit dem Ziel, zum Bau zu verhelfen. Teils nutzen sie die bereitgestellten Ressourcen erfolgreich, um verstärkt Expertise aufzubauen und zu verbreiten.
Dennoch sollte der „Bürgerdialog“ nicht als gescheiterter Versuch einer „Akzeptanzbeschaffung“ verstanden werden. Den Initiator:innen ging es vor allem darum, mit Bürger:innen in den Austausch zu kommen und ein neues Dialoginstrument zu testen. Man wollte – wie Bundeskanzler Willy Brandt 1969 erklärt hatte – „mehr Demokratie wagen“. Die Relevanz, die der Bürgerdialog für die Bundesregierung hatte, zeigt sich auch darin, dass neben (geförderten) Veranstaltungen und Publikationen regelmäßige Gesprächskreise der Minister mit Vertreter:innen der Zivilgesellschaft durchgeführt wurden. In diesen wurde das Instrument „Bürgerdialog“ stetig diskutiert und weiterentwickelt.
Der Abschlussbericht zum Forschungsprojekt „Bürgerdialog Kernenergie“ kann auf der Forschungsseite des BASE heruntergeladen werden.
Erkenntnisse aus dem Bürgerdialog sind nutzbar für heutiges Standortauswahlverfahren
Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen „damals“ und „heute“ können vorliegende Erkenntnisse auch für das aktuelle Standortauswahlverfahren zur Suche eines Endlagers für hochradioaktive Stoffe genutzt werden. Viele im Laufe des „Bürgerdialogs“ thematisierte Kritikpunkte (u.a. Intransparenz, Ressourcenungleichheit, mangelnder Zugang zu relevanten Informationen) – sind heute im Rahmen des geregelt.
So werden relevante Dokumente im aktuellen Verfahren auf einer Informationsplattform zur Verfügung gestellt. Das Nationale Begleitgremium sowie die zukünftigen verfügen über Mittel, um eigene wissenschaftliche Gutachten in Auftrag zu geben. So können sie eigene Expertise in das als selbst hinterfragend und lernend angelegte Verfahren einspeisen. Durch diese Regelungen profitiert die jetzige Verfahrensarchitektur. Sie stellt also bereits ein Lernen dar – auch dank der Erfahrungen aus dem „Bürgerdialog Kernenergie“.
Stand: 29.04.2024