Die Debatte um verlängerte AKW-Laufzeiten
In Deutschland wurde über die Laufzeitverlängerung der letzten drei Atomkraftwerke diskutiert. Im Zentrum dabei standen die Sicherheitsfragen bei einem möglichen Weiterbetrieb. Erfahren Sie mehr zu den Hintergründen.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sorgte in Deutschland u.a. für eine neue Debatte über die Energieversorgung und die damit einhergehende Versorgungssicherheit mit Gas. Deutschland war bislang in hohem Maße von fossilen Brennstoffen aus Russland abhängig.
Das Bundeskabinett beschloss am 19.10.2022 den Entwurf für eine 19. Atomgesetznovelle. Der Bundestag hat die 19. Atomgesetznovelle am 11.11.2022 mit 375 Ja-, 216 Nein-Stimmen und 70 Enthaltungen verabschiedet (661 abgegebene Stimmen). Der beschlossene Gesetzentwurf schuf die atomrechtlichen Voraussetzungen für einen befristeten Streckbetrieb der Atomkraftwerke Emsland, Isar2 und Neckarwestheim 2.
Der Gesetzentwurf schreibt vor, dass für den weiteren Leistungsbetrieb der Anlagen nur die in der jeweiligen Anlage noch vorhandenen Brennelemente zu nutzen waren. Der Einsatz neuer Brennelemente war nicht zulässig. Am 15. April 2023 haben diese drei Kraftwerke ihren Leistungsbetrieb eingestellt. Aufgrund des kurzen Zeitraums von maximal dreieinhalb Monaten zusätzlichen Leistungsbetriebs war für den Weiterbetrieb keine Periodische Sicherheitsüberprüfung vorzulegen. Der Staat übernahm keine Kosten für diesen Streckbetrieb. Der Gesetzentwurf bekam Ende November auch die Zustimmung des Bundesrates. Zur Pressemitteilung des BMUV
Zum Hintergrund
Prüfung einer Laufzeitverlängerung
Im Zuge dieser Debatte hatte die Bundesregierung Anfang März 2022 geprüft, ob eine Verlängerung der Laufzeiten der noch im Betrieb befindlichen drei in Deutschland umsetzbar wäre und inwiefern diese Verlängerung zur Energiesicherheit beitragen könnte. Im Ergebnis einer Abwägung von Nutzen und Risiken wurde im März 2022 eine Laufzeitverlängerung zunächst abgelehnt (zum Prüfvermerk des Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und BMUV).
Stresstest: Analyse der Stromversorgung
Die Bundesregierung hatte dann einen sogenannten Stresstest in Auftrag gegeben, der im Zeitraum von Mitte Juli bis Anfang September 2022 durchgeführt wurde. Die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber analysierten im Rahmen dieses Stresstests die voraussichtliche Versorgungslage mit Strom im nächsten Winter unter verschärften Annahmen. Sicherheitsaspekte waren im Gegensatz zu dem Prüfvermerk nicht Gegenstand der Betrachtung.
Im Ergebnis ist laut BMWK eine stundenweise krisenhafte Situation im Stromsystem im Winter 2022/23 zwar sehr unwahrscheinlich, kann aktuell aber auch nicht vollständig ausgeschlossen werden. Der Beschluss des Bundeskabinetts vom 19.10.2022 beruht u.a. auf diesem Stresstest.
Im Zentrum stehen Sicherheitsfragen
Das BASE hat den gesetzlichen Auftrag, die Sicherheit von nuklearen Anlagen und nuklearen Abfällen stets im Blick zu behalten. Dementsprechend stehen für unsere Bewertung in der Debatte die Sicherheitsaspekte im Vordergrund. Die Nutzung von Atomenergie erzeugt für Mensch und Umwelt bereits im Normalbetrieb Hochrisikostoffe und hinterlässt langfristig hochgiftige und strahlende Abfälle. Von der Gewinnung des Rohstoffes , über die Herstellung des Brennstoffs, den Betrieb von bis zur Entsorgung müssen über den gesamten Lebenszyklus hinweg hohe Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, um die Risiken für Mensch und Umwelt zumindest zu reduzieren und den Missbrauch zu verhindern.
Was macht Atomkraft zu einer Hochrisikotechnologie?
In einem Atomreaktor wird Energie durch produziert. Bei der eines Atomkerns entsteht in der Größenordnung bis zu 100.000.000-mal mehr Energie als bei einer herkömmlichen Verbrennungsreaktion. Zur Kontrolle dieser großen, konzentrierten Energiemengen sind komplexe Sicherheitskonzepte, -systeme und -maßnahmen notwendig. Ein folgenschwerer mit katastrophalen Folgen für Mensch und Umwelt durch Verlust von Kontrolle über das Kraftwerk kann nie komplett ausgeschlossen werden. Das Ziel aller Sicherheitsmaßnahmen ist daher eine Minimierung des Unfallrisikos.
Stand von Wissenschaft und Technik elementar für die Schadensvorsorge
Die Analysen früherer Reaktorkatastrophen wie der von Fukushima haben gezeigt, dass schwere nukleare Unfälle auch geschehen können, obwohl alle Beteiligten der Überzeugung sind, alles für die Sicherheit des Kraftwerks getan zu haben, um eine solche Katastrophe auszuschließen. Die Aufarbeitung der Reaktorkatastrophe von Fukushima in Japan zeigte, dass Japan aufgrund der bis dahin weit verbreiteten Einschätzung, ein solch katastrophaler sei undenkbar, nicht ausreichend auf den vorbereitet war. Das deutsche fordert daher, dass regelmäßig kritisch die jeweils gültige Sicherheitsarchitektur hinterfragt werden muss.
Die Anforderungen an den Nachweis der Sicherheit erhöhen sich kontinuierlich und müssen mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung schritthalten. Lassen sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die für den Schutz von Bevölkerung und Umwelt für erforderlich gehalten werden, technisch noch nicht verwirklichen, darf z.B. eine Neugenehmigung für den Betrieb eines nicht erteilt werden. Für in Betrieb befindliche müssen technische Anpassungen an die neuesten Sicherheitsentwicklungen alle zehn Jahre durch eine periodische bestimmt und durchgeführt werden. Ziel ist, die nukleare Sicherheit der Anlage kontinuierlich zu verbessern. Die an gestellten Anforderungen sind damit höher als an konventionelle Kraftwerke.
Weiterbetrieb: Abstriche bei der Sicherheit?
Für eine Laufzeitverlängerung müssen Kraftwerke nach Vorgabe des Gesetzes ein höheres Sicherheitsniveau erfüllen. Wie dieses konkret aussieht und welche Maßnahmen und Nachrüstungen notwendig sind, um die nukleare Sicherheit der Anlage kontinuierlich zu verbessern, wird normalerweise mithilfe einer periodischen bestimmt.
Seit 2014 gelten bei der Erteilung neuer Genehmigungen auch europaweit erhöhte Anforderungen an die Sicherheit von . Denn auch unsere Nachbarn haben einen Anspruch darauf, vor den Gefahren deutscher möglichst gut geschützt zu werden.
Krieg in der Ukraine verschärft Sicherheitslage atomarer Anlagen
Reaktorkatastrophen der vergangenen Jahrzehnte ereigneten sich bisher in Friedenszeiten: Die Unfälle in westlichen Reaktortypen (Windscale in Großbritannien in den 1950ern, Harrisburg in den USA 1979), die Explosion eines Reaktors sowjetischer in Tschernobyl im Jahr 1986 und schließlich die Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011. Letztere führte in Deutschland zum parteiübergreifenden Beschluss für den Atomausstieg bis zum Jahr 2022. Mit dem 11. September 2001 ist außerdem deutlich geworden, dass auch terroristische Aktivitäten konkrete Bedrohungslagen darstellen können, was zu einer Verschärfung von Sicherheitsauflagen für nukleare Anlagen führte. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind jedoch Szenarien eingetreten, die bisher als kaum realistisch galten. Das katastrophaler Unfälle hat sich nochmals verschärft.
Atomanlagen sind nicht gegen kriegerische Angriffe ausgelegt
Mit dem Krieg in der Ukraine sind zivile kerntechnische Anlagen zum ersten Mal indirekt zum Ziel kriegerischer Auseinandersetzungen geworden. Kerntechnische Anlagen können gegen diese Form der Bedrohung nicht ausgelegt werden. Russlands Angriffskrieg macht deutlich, dass internationale Regeln, die Kriegshandlungen rund um untersagen, nur so lange Bestand haben können, wie sich alle Akteure daran gebunden fühlen. Atomanlagen werden in derartigen Fällen zu einer besonderen Bedrohung. Ihre Nutzung ist in vielen Atomstaaten zudem eng mit dem militärischen Gebrauch verbunden. Die militärische Nutzung, sei es durch Nuklearwaffen oder auch indirekt durch Beschuss einer Anlage, stellt eine Erhöhung der Risiken für eine Gesellschaft dar.
Kurzfristiger Nutzen vs. erhöhte Sicherheitsrisiken
Letztendlich ist es eine gesellschaftspolitische Entscheidung, ob die kurzfristige Versorgungssicherheit höher gewertet wird als der langfristige und weitreichende Schutz von Mensch und Umwelt. Aus fachlicher Sicht kann die Laufzeitverlängerung weniger Reaktoren mit einem Stromanteil von 6 Prozent letztendlich nur einen sehr geringen Beitrag an der Energieversorgung leisten.
Gesellschaftliche Risiken
Darüber hinaus birgt eine Laufzeitverlängerung auch gesellschaftliche Risiken. Denn der Atomausstieg ist die zentrale Grundlage für die 2017 neugestartete Endlagersuche für die in Deutschland.
Mit dem Ausstiegsbeschluss 2011 wurde einerseits die zu entsorgende Abfallmenge klar begrenzt. Die Anforderung hinsichtlich der Größe des Endlagers wurde dadurch definierbar – eine wesentliche Basis für die Glaubwürdigkeit des Verfahrens und die Akzeptanz eines zukünftigen Standortes. Darüber hinaus wurde mit dem Ausstiegsbeschluss ein gesellschaftlicher Großkonflikt befriedet. Die Endlagersuche ist nicht länger die Voraussetzung (der sogenannte Entsorgungsnachweis) für den Weiterbetrieb oder den Neubau von . Stattdessen ist die Endlagersuche der notwendige letzte Schritt zur Vollendung des Atomausstiegs. Eine langfristige Laufzeitverlängerung könnte den gesellschaftlichen Konflikt wiederbeleben und den parteiübergreifenden Konsens infrage stellen.
Stand: 11.11.2022