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Start ohne Landebahn

Von Jochen Ahlswede, BASE

Jochen Ahlswede - Leiter Forschung und Internationales
© BASE

Klimakrise, Vermüllung der Meere, Giftstoffe in der Umwelt – unsere Zeit ist voll von Beispielen, wie der Erfindergeist der Menschheit Technologien mit negativen Folgewirkungen hervorgebracht hat. Dabei sind Technologien an sich weder „gut“ noch „schlecht“, entscheidend ist der gesellschaftliche Umgang mit ihnen. Dazu gehört insbesondere die Frage: Steigt man einfach in vielversprechend klingende Technologien ein und „hebt ab“, ohne zu wissen, wo man wieder landen kann? Oder plant man schon vor dem Start die Route, wägt genau ab und stellt sicher, dass es am Ziel auch eine Landebahn gibt?

Es war gerade acht Jahre her, dass die zerstörerische Kraft der Atombombe auf die japanischen Städte Nagasaki und Hiroshima gelenkt worden ist und das Ausmaß dieser neuen Technologie offenbarte, als der damalige US-amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower 1953 in einer Vollversammlung der Vereinten Nationen seine Rede „Atoms for Peace – Atome für den Frieden“ hielt. Während insbesondere die Bevölkerung Europas noch die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges spürte und sich bereits eine neue Teilung der Welt anbahnte, sollte eine Technologie der Zerstörung in eine Technologie des Wachstums und Wohlstands verwandelt werden. Diese nur allzu verständliche Hoffnung auf eine friedliche Nutzung der Atomkraft für Energieerzeugung, Transport, Landwirtschaft und Medizin war weithin spürbar und breitete sich rasch aus. Die gewünschte Entkoppelung von militärischer und ziviler Nutzung von Atomenergie gelang jedoch nicht, denn die Zahl der weltweit verfügbaren Atomwaffen stieg in exorbitante Höhen (über 64.000 im Jahr 1986), während der Bau von weit hinter den ursprünglichen Plänen zurückblieb. Was jedenfalls in der Rückschau zu kurz kam, war eine systematische und ehrliche Vorausschau der Risiken und Lösbarkeit von Problemen dieser Technologie. Eine Landebahn, insbesondere für die hochgefährlichen Hinterlassenschaften, gibt es bis heute nicht.

Dabei gingen Gesellschaften durchaus sehr unterschiedlich mit der Atomtechnologie um. Es bildeten sich sehr spezifische „Energiekulturen“, also wechselseitige Verknüpfungen von Atomenergie mit gesellschaftlicher Ordnung, Werten und Kultur, heraus. Die Geschichte der Atomkraft in Deutschland zeigt in vielen Etappen, wie sich soziale, politische, und wirtschaftliche Gegebenheiten unterschiedlich auf nationale nukleare Energiekulturen auswirken.

In Deutschland hat sich das Verhältnis zur Atomenergie demnach wechselvoll gestaltet: Die Ansätze einer militärischen Verwendung wurden schon Ende der 1950er eingestellt, dafür aber die zivile Nutzung von staatlicher Seite stark vorangetrieben. Heute stehen wir kurz vor der Beendigung der Atomenergie, was nicht zuletzt auf jahrzehntelanges gesellschaftliches Engagement zurückgeht. Festzuhalten ist aber auch: Eine Landebahn, also die Lösung für die nukleare Entsorgung, ist auch in Deutschland noch weit entfernt.

Erlebt die Geschichte der Atomkraft aktuell eine Renaissance oder wird ihr letztes Kapitel geschrieben? Die deutsche Perspektive scheint klar, der Ausstieg aus der Atomkraft ist beschlossen und der primäre Fokus liegt nun auf dem sicheren Umgang mit den Hinterlassenschaften – von der der letzten bis zu der sicheren . Deutschland ist im Begriff eine post-nukleare Energiekultur zu entwickeln, die die Zukunft in erneuerbaren Energieträgern sieht. Einen ähnlichen Weg gehen neben Deutschland auch andere Staaten, in Europa etwa Italien, Spanien, Belgien und die Schweiz. Ihnen gegenüber stehen andere Länder, die weiter Atomkraft betreiben und Reaktortechnologien weiter entwickeln möchten (z. B. China, Russland, Indien & Frankreich). Global gesehen sind die Staaten, die keine Atomkraft nutzen, aber deutlich in der Überzahl: Die Hälfte der OECD-Staaten betreibt keine Atomkraftwerke, weltweit sind es 83 % aller Staaten. Ob eine signifikante Zahl derjenigen Staaten, die sich für einen Einstieg aktuell interessieren, in absehbarer Zeit eigene Atomkraftwerke zum Laufen bringen werden, darf vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen hinterfragt werden. Auch sehen wir hier komplexe Motivlagen, in denen nicht selten zivile und militärische Interessen miteinander verschränkt sind.

Eine aktuell hoch umstrittene Position ist, dass Atomkraft als CO2-arme Energiequelle einen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten und damit als nachhaltige Energiegewinnung eingestuft werden könne. In diesem Kontext entfachte auch die neu aufgelegte Debatte um verschiedene Entsorgungsoptionen von Atommüll: Während die Überlegungen zur Lagerung in der Tiefsee oder zur Entsorgung im All schon vor langer Zeit verworfen wurden, werden angebliche Recyclingmethoden weiter diskutiert – obwohl die Forschung an einem „geschlossenen Brennstoffkreislauf“ auch 70 Jahre nach Einführung der Atomkraft zu keinem Erfolg geführt hat.

Es ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, nüchtern zu reflektieren, dass bestimmte Landebahnen einfach nicht existieren, bevor man sich entscheidet, den Anschlussflug zu nehmen.

Stand: 03.02.2023