Beteiligung, ja bitte!
Von Ina Stelljes, BASE
„Bitte schauen Sie nur mich an, auch wenn Sie Ihren Sitznachbarn kritisieren!“ Zur Verdeutlichung richtet der mit aufmunterndem Lächeln Zeige- und Mittelfinger abwechselnd auf die eigenen Augen und die des Angesprochenen. Irritiertes Lachen durchzieht den Stuhlhalbkreis mit rund 20 Teilnehmer:innen aus gesellschaftlichen und staatlichen Organisationen, Kommunen und Wissenschaft. Es ist ungewohnt aber gewollt, so Kritik zu äußern, vor allem dann, wenn sie als pointierte Antwort auf das zuvor Gesagte gedacht ist. Der Blick zum Moderator hilft, sachlich zu bleiben. Und alle in der Runde sind gezwungen, einfach zuzuhören. Es ist der Versuch, mit Unterstützung spezieller Methoden und professioneller Moderation verschiedene Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen und Erfahrungen zusammenzubringen. Ziel ist es, zusammen ein Beteiligungskonzept zu erarbeiten. Ein zweitägiger Workshop im Oktober 2021 im niedersächsischen Northeim, abgeschieden am Waldrand, bildete den Auftakt zu Gesprächen, die schließlich im November in eine gemeinsam getragene Idee mündete. Dass dies gelang, war der Bereitschaft zu verdanken, sich gegenseitig zuzuhören:
zu verstehen, welche Lösungen vorgeschlagen werden, zu verstehen, wo möglicherweise Haken und Hindernisse liegen.
Rücksprung, Hannover Frühjahr 1979: Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Pläne für ein nukleares Entsorgungszentrum in Gorleben lädt Niedersachsens Ministerpräsident Albrecht zum öffentlichen „Gorleben-Hearing“ ein. Teilnehmer:innen kommen aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Auch Bürger:innen sind anwesend. Ministerpräsident Albrecht will durch die Diskussion internationaler Expert:innen die Wogen des Konflikts um das geplante Projekt glätten. 62 Wissenschaftler:innen aus beinahe aller Welt sind sechs Tage lang und täglich sechs Stunden damit beschäftigt, durch
„Rede-Gegenrede“, wie die Veranstaltung offiziell genannt wird, „herauszufinden, wo die Wahrheit liegt“ (Spiegel, 1979). Den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt kann dieses Hearing nicht befrieden: Der wenig später von der Politik beschlossene Kompromiss sieht vor, in Gorleben zwar keine mehr zu planen, jedoch weiterhin Pläne für ein für zu verfolgen. Die folgenden Auseinandersetzungen werden zu einem der Symbole für den gesellschaftlichen Großkonflikt um die Atomkraft in Deutschland.
Northeim 2021, Hannover 1979 – zwischen beiden Szenen liegen gut 40 Jahre. Die Ansätze einer Verständigung könnten nicht unterschiedlicher sein. Und natürlich liegt eine lange Wegstrecke von verschiedenen Ereignissen dazwischen, die heute ganz andere Grundvoraussetzungen für Verständigung bieten. Unter anderem der im Jahr 2011 beschlossene Ausstieg aus der Atomenergie. Der Beschluss schuf eine neue Grundlage für die Endlagersuche und ein Ende des gesellschaftlichen Konflikts um die Nutzung der Atomenergie. Zwischen 2014 und 2016 feilten Politik, Wissenschaft, Gewerkschaften, Umweltverbände, Vertreter:innen von Kirchen und Wirtschaft in der Endlagerkommission gemeinsam an einer Idee für eine neue Suche nach einem in Deutschland. Die Vorschläge der Endlagerkommission waren 2017 Grundlage für das von Bundestag und Bundesrat beschlossene .
Das Standortauswahlgesetz: Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie
Das (StandAG) sieht vor, mit dem Mittel einer umfassenden Öffentlichkeitsbeteiligung eine von der Gesamtgesellschaft getragene und von den letztlich Betroffenen tolerierbare Lösung für die der in Deutschland zu finden. Dabei „... sind Bürgerinnen und Bürger als Mitgestalter des Verfahrens“ mit einzubeziehen, schreibt der Gesetzgeber im StandAG.
Die hochkomplexe Aufgabe der Endlagersuche durch mehr Partizipation lösen zu wollen, ist einerseits neu, andererseits eine Voraussetzung. Die Erfahrungen von Gorleben und vergleichbarer Konflikte in Deutschland – wie etwa die Auseinandersetzungen um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ vor über zehn Jahren – verlangen von der Politik genau das: eine partizipative Erneuerung der Demokratie und Mitgestaltung der Bürger:innen an langfristigen und zukunftsrelevanten Entscheidungen. Der Journalist Heribert Prantl schreibt dazu 2010 angesichts der Konflikte um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ in der Süddeutschen Zeitung:
„Man kann sich die repräsentative Demokratie in Deutschland als einen Apfelbaum vorstellen: Jahrzehnte alt, eigentlich ganz gut gewachsen, knorrig, aber da und dort verdorrt – und krankheitsanfällig; (...) Beim Apfelbaum überlegt der Obstgärtner dann, ob und wie er ihn verbessern kann: Er pfropft dem alten Baum neue Zweige ein (…). Wenn er das ordentlich macht, trägt der Baum ein paar Jahre später ganz neue Früchte (…)“ (Prantl, 2010).
Stand: 03.02.2023