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Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft
Von Lukas Kübler und Dr. Monika Arzberger, BASE
Im konfliktträchtigen Verhältnis von Gesellschaft und Atomkraft und seiner Geschichte in Deutschland ist ein Akteur von besonderer Bedeutung: der Staat. In der BRD wurde 1955 das Atomministerium gegründet und in der DDR wurde Ende der 1950er Jahre mit dem Bau des AKW Rheinsberg begonnen. So trat der Staat zunächst vor allem als Initiator und Förderer der technisch-industriellen Entwicklung der Atomkraft in Erscheinung, bis in den 1970er Jahren der großflächige Ausbau der Atomkraft in Gang gekommen war. Neben der Förderung von Forschung und Infrastrukturausbau war dabei die Entsorgung der radioaktiven Abfälle zu regeln: Die Pläne zur unterirdischen Endlagerung, das Vorhaben der sogenannten „integrierten Entsorgungsanlage“ (1974) oder die Einführung des Entsorgungsnachweises (1976) gehörten ebenfalls zu den staatlichen Maßnahmen dieser Ausbaupolitik.
Bis in die 1970er Jahre hinein hatte diese staatliche Ausbaupolitik breite gesellschaftliche Unterstützung, unter anderem durch alle damals im Bundestag vertretenen Parteien. Mit den Protesten gegen das geplante AKW Wyhl 1975 änderte sich diese gesellschaftliche Situation grundlegend (Rucht, 1980). In der Folge entwickelte sich schnell eine „Frontstellung“ (Radkau, 2011) zwischen Zivilgesellschaft und Staat: Die zivilgesellschaftlich organisierten Proteste in Gorleben, die Entstehung der Umweltbewegung und schließlich auch der Partei „Die Grünen“ setzten der staatlichen Förderung der Atomkraft zunehmenden gesellschaftlichen Widerstand entgegen. Aufgelöst wurde dieser Konflikt erst im Rahmen des ersten Atomausstiegs 2002 bzw. insbesondere durch dessen Erneuerung 2011.
Bis dahin überlagerte der Konflikt außerdem die Endlagerfrage, weil jeder Versuch mit ihrer Befassung als Versuch verstanden wurde, den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke zu zementieren. Entsprechend erstreckte sich der zivilgesellschaftliche Widerstand ebenfalls auf die Endlagerung, insbesondere auf das umstrittene Endlagerprojekt in Gorleben.
Der Atomkonflikt als Katalysator der bundesrepublikanischen Demokratieentwicklung
In der Geschichte des Atomkonflikts in Deutschland spiegelt sich auch die Weiterentwicklung der bundesrepublikanischen Demokratie seit den 1970er Jahren: Heute besteht in der Demokratietheorie weitgehend Einigkeit, dass seit den 1970er Jahren die klassischen Beteiligungs- und Beratungsformen der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie durch „unkonventionelle“, zivilgesellschaftliche Beteiligungsformen wie Straßenprotest, Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen weiterentwickelt wurde. Eine lebendige Zivilgesellschaft, die ihre Anliegen selbstbewusst gegenüber Staat und Wirtschaft behaupten kann, gilt heute als Voraussetzung einer funktionierenden und wirkmächtigen Demokratie.
Sie macht auf Problemlagen aufmerksam, hinterfragt staatliches Handeln und unterstützt die politische Meinungsbildung, gerade im Fall von umweltpolitischen oder langfristigen Zukunftsthemen, die keine politische Lobby haben. Damit versucht sie, Einfluss auf die Öffentlichkeit und die Institutionen des parlamentarischen Systems zu nehmen, um eine bürgernahe Politik zu befördern (Habermas, 1994).
Rückblickend wurde so die Konfrontation und Polarisierung von Staat und Zivilgesellschaft im Atomkonflikt in den demokratischen Institutionen schrittweise bearbeitet und in eine „Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie“ (Uekötter, 2022) transformiert. Zugleich haben sich aber auch die Rahmenbedingungen staatlichen Handelns und der öffentlichen Verwaltung stark verändert. Der französische Demokratieforscher und -historiker Pierre Rosanvallon hebt hervor, dass die oben genannten, heute fest etablierten Formen „unkonventioneller“ Beteiligung vorrangig auf die Überwachung, Kontrolle und Verhinderung konkreter staatlicher Vorhaben abzielen (Rosanvallon, 2018; Smeddinck, 2021). Dahinter steht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlichem Handeln und deshalb benennt Rosanvallon diese Entwicklung auch mit dem provokanten Begriff der „Gegen-Demokratie“. Beispiele dafür reichen von Infrastrukturprojekten wie „Stuttgart 21“ bis zu politischen Entscheidungen wie der Erhöhung der Dieselsteuer in Frankreich, an der sich 2018 die „Gelbwesten“-Proteste entzündeten.
Rosanvallon zufolge ist diese Entwicklung eine Tatsache, die das Verhältnis von Staat und Gesellschaft grundsätzlich verändert hat. Sie birgt Chancen wie Risiken: Einerseits ist sie eine wichtige Weiterentwicklung der Demokratie und Voraussetzung für eine Gesellschaft, die ihre Anliegen dem Staat gegenüber selbstbewusst vertritt. Zugleich droht die Gegen-Demokratie aber auch beständig, in Blockade- oder Verweigerungsbestrebungen umzukippen, ohne dass realistische Alternativvorschläge entwickelt werden.
Partizipation und Kooperation bei der Standortsuche für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle
Was bedeutet dies für die verbleibende Aufgabe der Endlagerung? Zunächst ist das Problem der Endlagerung durch den Atomausstieg von der Polarisierung des Atomkonflikts befreit worden. Darauf aufbauend ist durch die Arbeit der Endlagerkommission und die parteiübergreifend unterstützte Novellierung des StandAG 2017 ein geeigneter politischer Rahmen geschaffen worden, die Aufgabe neu in Angriff zu nehmen. Die darin festgelegten Prinzipien von Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Mitgestaltung nehmen die Ansprüche der (zivil-)gesellschaftlichen Akteure ernst.
Zum einen erkennt das Standortauswahlverfahren damit die „gegen-demokratischen“ Interessen und Bestrebungen gesellschaftlicher Akteure als neue Realität staatlichen Handelns an und bietet diesen einen Resonanzraum. Zum anderen geht es aber auch darüber hinaus: Die Mitwirkung unterschiedlicher Akteur:innen und Stakeholder soll selbst auch zu einer Ressource für das Verfahren gemacht werden. Damit knüpft das Standortauswahlverfahren an Entwicklungen an, die auch in anderen Themenfeldern in den vergangenen Jahren zu Innovationsmotoren der öffentlichen Verwaltung geworden sind: Partizipation und Kooperation. Um beides zu verwirklichen, muss das Standortauswahlverfahren einen neuen, eben nicht konfrontativen Interaktionsraum zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren ermöglichen (Weißpflug, 2022).
Jüngere Forschungen zur Bürgerbeteiligung haben in den vergangenen Jahren untersucht, unter welchen Bedingungen Beteiligung helfen kann, das Scheitern großer, kontroverser Infrastrukturprojekte zu verhindern. In Theorie und Praxis bildet sich zunehmend ein Verständnis von Beteiligung heraus, das Beteiligung als dialogischen, wechselseitigen und kreativen Prozess versteht, der sich von öffentlichen Anhörungen grundlegend unterscheidet, die vorrangig dem Rechtsschutz dienen (Arndt, 2021). Beteiligung wird dann als „dialogorientiert“ bzw. „deliberativ“ verstanden, wenn das Ziel eine moderierte, sachliche Diskussion der beteiligten Positionen ist. Um Konflikte und Probleme dabei konstruktiv zu bearbeiten, muss dieser Dialog frühzeitig beginnen (solange noch Offenheit für Gestaltung besteht), ein breites Spektrum an Perspektiven repräsentieren und die Wirksamkeit des Beteiligungsverfahrens von vornherein geregelt sein (Sommer, 2021; OECD, 2020).
Das StandAG orientiert sich an dieser „dialogorientierten“ (§ 5 Abs. 2) Vorstellung von Beteiligung. Darüber hinaus sieht es aber auch vor, dass Bürger:innen als „Mitgestalter“ des Beteiligungsverfahrens „einzubeziehen“ seien (§ 5 Abs. 1). Außerdem ist neben den Betroffenen der Standortregionen die breite Öffentlichkeit einzubeziehen. So gehörten z. B. zu den Zielgruppen der Fachkonferenz Teilgebiete neben den Bürger:innen auch Kommunen, Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen. Auch dies entspricht der gegenwärtigen Einsicht der Partizipationsforschung, dass in Beteiligungsprozessen die Beteiligungsformen (z. B. Konsultation, Beratung, Kooperation) auszubalancieren und unterschiedliche Zielgruppen (z. B. Expert:innen, organisierte ökonomische, politische oder gesellschaftliche Interessenträger, Selbstselektion oder Zufallsauswahl von Bürger:innen; Fung, 2015) differenziert einzubinden sind.
Die Übergänge von Beteiligung zur Kooperation sind fließend. Dahinter steht die Vorstellung, dass öffentliche Institutionen ihre Aufgaben in einer komplexen Welt besser bewältigen können, wenn sie in der Lage sind, mit anderen Akteuren zusammenzuarbeiten. Politik- und Verwaltungswissenschaft haben die Zusammenarbeit zwischen Staat und Gesellschaft lange unter der Fragestellung betrachtet, inwiefern dadurch gesellschaftliche Konflikte entschärft und Probleme frühzeitiger erkannt werden können. Seit Kurzem rückt aber immer stärker auch die Frage in den Vordergrund, wie staatliche Institutionen ihre eigentlichen Aufgaben durch die proaktive und gezielte Kollaboration mit anderen Akteuren noch besser erfüllen können. Denn einerseits ist die Spezialisierung einer Fachbehörde eine wesentliche Voraussetzung dafür, um mit technischen und komplizierten Problemen erfolgreich umzugehen. Andererseits steckt in der Spezialisierung auch immer die Gefahr, Zusammenhänge zu übersehen oder naheliegende Lösungen zu ignorieren.
Als wissenschaftliche Begriffe für solche Lösungsansätze haben sich in den vergangenen Jahren „Ko-Produktion“ und „Ko-Kreation“ eingebürgert (Ansell, 2021). „Ko-Produktion“ meint die gezielte Einbeziehung von Nutzer:innen in die Entwicklung und/oder Bereitstellung von Dienstleistungen der staatlichen Verwaltung. Einen wichtigen Anstoß haben dafür Konzepte von „nutzerzentrierter Serviceentwicklung“ oder „Design Thinking“ gegeben, die ursprünglich aus der Software- oder Produktentwicklung stammen. Nutzer:innen von Dienstleistungen oder Produkten sollten in deren Entwicklung mit einbezogen werden, um ihre Bedürfnisse einzubringen. Dies unterstützt auch staatliche Behörden darin, bürgerfreundlicher Dienstleistungsangebote zu entwickeln. Da außerdem viele öffentliche Güter auf die freiwillige Mitwirkung der jeweiligen Nutzer:innen angewiesen sind, sollte deren Rolle von vornherein auch im Design von Dienstleistungen bedacht werden – sei es über das Ausfüllen eines Formulars oder die Vorbereitung auf ein Auswahlgespräch für eine von der Arbeitsagentur vermittelte Stelle.
Das Konzept der „Ko-Kreation“ verallgemeinert diese Kooperationsidee nun dahingehend, dass die öffentliche Verwaltung Lösungsvorschläge für ein bestimmtes Problem in offenen Beteiligungsprozessen mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stakeholder erarbeitet. Eine „beteiligende Verwaltung“ lädt daher proaktiv Bürger:innen, Wissenschaftler:innen, Stakeholder und andere Behörden und Ressorts dazu ein, beratenden, konsultativen oder mitgestaltenden Einfluss auf Entscheidungen auszuüben. Sofern es gelingt, die unterschiedlichen Perspektiven in einen konstruktiven Dialog zu bringen, können dabei kreative wie realistische Lösungen entstehen.
Eine Herausforderung der nächsten Jahre wird es sein, diese Ansätze eines neuen kooperativen Miteinanders von Staat und Gesellschaft auszubauen und zu konsolidieren. In der Weiterentwicklung des Beteiligungsverfahrens von Phase 1 des Standortauswahlverfahrens erprobt das BASE ein solches ko-kreatives Vorgehen gemeinsam mit Vertreter:innen der gesellschaftlichen Akteure, der BGE mbH und dem NBG. Um die Grundlagen für Kollaboration und Beteiligung insgesamt zu stärken, hat das BASE außerdem Anfang 2022 das Laboratorium Beteiligende Verwaltung eingerichtet (BASE, 2022b).
Quellenangaben:
Rucht, 1980
Rucht, D. (1980): Von Wyhl nach Gorleben. Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsorgung, Munich, C.H. Beck, u. a. S. 82–83.
Radkau, 2011
Radkau, J. (2011): Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 368.
Habermas, 1994
Habermas, J. (1994): Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1994, Kap. VIII, insbes. S. 460f.
Uekötter, 2022
Uekötter, F. (2022): Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Stuttgart, 2022, u. a. S. 10, 15–19, 43–45 und 291–305.
Rosanvallon, 2018
Rosanvallon, P. (2018): Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens, Bonn 2018.
Smeddinck, 2021
Smeddinck, U. (2021): Standortauswahlgesetz und ‚Gegen-Demokratie‘. Der Rechtsrahmen der ‚Endlagersuche‘ im Spiegel von Rosanvallons Demokratie-Analysen, in: Verwaltungsarchiv 112, H. 4, S. 490 – 508.
Weißpflug, 2022
Weißpflug, M. u. a. (2022): Experimente erwünscht: Öffentlichkeitsbeteiligung und staatliche Verantwortung bei der Endlagersuche in Deutschland, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 35. Jg., H. 2 (FJSB Plus) (2022), URL: https://forschungsjournal.de/fjsb/wp-content/uploads/fjsb-plus_2022–2_weisspflug_kuebler_ahlswede_stelljes_nanz.pdf, zuletzt abgerufen am 3. August 2022.
Arndt, 2021
Arndt, U. (2021): Das Gesetz über die Dialogische Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg – eine Wegmarke für die Bürgerbeteiligung, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 136. Jg., Heft 11 (2021), S. 705–711.
Sommer, 2021
Sommer, J. (2021): 10 Jahre Bürgerbeteiligung in Deutschland – Erfahrungen und Herausforderungen, in: ders. (Hg.) Kursbuch Bürgerbeteiligung, Bd. 4, Berlin 2021, S. 14–23.
OECD (2020): Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions. Catching the deliberative wave, Paris 2020.
Fung, 2015
Fung, A. (2015): Putting the Public Back into Governance: The Challenges of Citizen Participation in the Future, Public Administration Review, 75. Jg., Nr. 4, 513–522.
Ansell, 2021
Ansell, C., Torfing, J. (2021): Public Governance as Co-Creation, Oxford 2021.
BASE, 2022b
Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (2022): Laboratorium Beteiligende Verwaltung, URL: https://www.base.bund.de/DE/base/bundesamt/base-leitung/nanz/laboratorium/laboratorium.html, zuletzt abgerufen am 3. August 2022.
Stand: 03.02.2023